In der Netflix-Serie sind sogar Schach, Sucht und Kalter Krieg ein Augenschmaus

Das Damengambit: Sex, Drogen und ... Schach?

11.12.2020 um 11:24 Uhr

Das Talent mancher Künstler zeigt sich von Beginn an voll ausgeprägt, andere brauchen Zeit und Übung, um ihres zu entfalten. Die Netflix-Miniserie Das Damengambit handelt von einer Frau, auf die beides zutrifft. 

Der US-amerikanische Schriftsteller Walter Tevis veröffentlichte seinen Roman The Queen’s Gambit 1983. Zuvor waren andere seiner Romane verfilmt worden, etwa The Hustler (1959; Deutsch: Die Haie der Großstadt, 1987) und The Man Who Fell to Earth (1963; Deutsch: Spion aus dem All, 1963). Die Filmrechte von The Queen’s Gambit waren schnell vergeben, aber der Tod des Autors im folgenden Jahr führte zum Produktionsstopp.

Im Laufe der Jahre gab es viele neue Anläufe, um die Geschichte zu verfilmen – einer sollte das Regiedebüt von Heath Ledger werden. Schließlich gab die Netflix-Geldmaschine mit dem altgedienten Autor Scott Frank an der Spitze grünes Licht. Frank ist der Drehbuchautor für alle Fälle. 1991 gelang ihm mit Dead Again der Durchbruch (Kenneth Branagh führte Regie), und Frank schrieb die Drehbücher für Klassiker wie Get Shorty, Out of Sight und Minority Report. Mit The Queen's Gambit gibt der 60-Jährige sein Debüt als Showrunner. Das Ergebnis überzeugt in jeder Hinsicht. 

Beth Harmon (Anya Taylor-Joy) ist, wie die meisten großartigen Protagonisten, eine Waise. Ihre Mutter, Alice (Chole Pirrie), stirbt in der ersten Folge Eröffnung bei einem Autounfall, aber Beth (als Kind von Isla Johnson gespielt) bleibt unversehrt. Sie wird in ein Waisenhaus gebracht, das von Helen Deardorff (Chrstiane Seidel) geführt wird; dort fällt Beths Leben nur noch mehr auseinander. 

Es ist Mitte der 1950er Jahre und Helens Vorstellungen von Kindererziehung sind, sagen wir mal, viel weniger aufgeklärt, als sie denkt. Sie glaubt an ein "besseres Leben durch Chemie", dementsprechend erhalten alle Waisenkinder Beruhigungsmittel, um Verhaltensauffälligkeiten vorzubeugen. Doch bei Jolene (Moses Ingram), einem der wenigen schwarzen Mädchen im Waisenhaus, scheinen die Medikamente nicht zu wirken. Jolene rät Beth, die grünen Pillen für einen Rausch zur Schlafenszeit aufzuheben. Sie freunden sich an und besiegeln ihren Bund, indem Jolene Beth beibringt, wie man flucht und erklärt, was ein Penis ist.

Das ist der Stoff, aus dem Millionen von Freundschaften in der Schule sind, doch die "Freundschaft" von Beth und Jolene sollte vielleicht in Anführungszeichen gesetzt werden. Die junge Beth ist eine der zurückgezogensten und einsamsten Filmfiguren, die je geschaffen wurden. Es ist zweifelhaft, ob sie, auch bevor sie Waise wurde, jemals einen glücklichen Tag in der Obhut ihrer offensichtlich psychisch kranken Mutter verbracht hat. Sogar mit acht Jahren ist sie schweigsam und verbissen kontrolliert. Freude verspürt das Mädchen nur bei benzo-induzierten außerkörperlichen Erfahrungen. Und wenn es sich in den Keller schleicht, um mit dem Hausmeister, Mr. Shaibel (Bill Camp), Schach zu spielen. 

Shaibel ist ein Einzelgänger und beschäftigt sich amateurwissenschaftlich mit Schach. Er erschrickt, als er Beths Talent sofort erkennt. Innerhalb weniger Wochen kann sie die Regeln so gut umsetzen, dass sie ihn regelmäßig schlägt. Ihr strategischer Verstand bleibt jedoch ein Geheimnis, bis eine Behörde dem Waisenhaus verbietet, den Kindern Beruhigungsmittel zu geben. 

Beth ist verzweifelt und brütet einen Plan aus, der ihre Versorgung mit den kleinen grünen Pillen sicherstellen soll. Die Sequenz, in der sie versucht, die Pillen zu stehlen, ist perfekt und prägt Beths Charakter für den Rest der Serie. Jeder Schritt wird im Voraus bedacht und mit kaltblütiger Präzision ausgeführt.

Schließlich hält sie das riesige Glas mit den Wohlfühlbonbons in den Händen und schaufelt sich Pillen in den Mund – auch noch, als sie das Endspiel vor Augen hat und von praktisch allen Bewohnern des Waisenhauses erwischt wird. Anschließend darf sie solange kein Schach spielen, bis sie von Alma Wheatly (Marielle Heller) adoptiert wird. Wheatly ist eine vernachlässigte Hausfrau, die früher davon träumte, Klavierspielerin zu werden. 

In den übrigen sieben Episoden kämpft Beth darum, ein Gleichgewicht zwischen ihrem erstaunlichen Genie und dem emotionalen Schmerz zu finden, der sie bei allem verfolgt, was sie tut. Nach einem unglaublichen Anfang von Isla Johnson wird Beth von Arya Taylor-Joy verkörpert. Sie spielt Beth als eine Art Außerirdische, die die erbärmlich schwachen Menschen um sie herum beobachtet. Wie Leonard Nimoy's Spock hat sie durchaus Gefühle, opfert sie jedoch, um eine tiefe, schreckliche Wut im Zaum zu halten. 

Scott Franks Regie erinnert eindeutig an Kubrick, und Arya Taylor-Joy weiß, wie man aus toten Augen starrt. Sie ist wunderschön und elegant, während sie die Welt des Wettkampfschachs erobert, aber man zweifelt keine Sekunde daran, dass hinter diesen Augen ein riesiges, pochendes Gehirn steckt, das jeden Zug seziert. 

Das Szenenbild ist exzellent. Beth reist im Kalten Krieg nach Las Vegas, Paris und Moskau, wo sie um immer größere Geldbeträge spielt und um den Respekt der sexistischen Schachbrüder kämpft, die sich nicht vorstellen können, von einem Mädchen geschlagen zu werden. 

Bis zu den beiden letzten Episoden bleibt Das Damengambit bissig-spöttisch. Dann bringen Beths Süchte sie an einen Tiefpunkt, während sie sich auf ein Meisterschaftsspiel gegen den russischen Meister Wassili Borgov (Marcin Dorocinski) vorbereitet. 

Wahrscheinlich hätten für Das Damengambit sechs Episoden genügt. Im Zeitalter aufgeblähter Erzählungen, die den Zuschauer möglichst lange vorm Bildschirm halten sollen, sind es sieben geworden. Aber wenn die Welt einer Serie so wunderschön gestaltet ist, macht es einem nichts aus, wenn man ein wenig mehr Zeit hat, sich umzusehen.

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